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AutorenbildMarcus Schütz

30 Jahre Wende im Gelände

Aktualisiert: 14. Okt. 2020

Im Frühjahr, da wir noch nicht erwachsen waren, war die Wiedervereinigung in aller Munde.



Meine alte Großmutter hatte sich zur Kur nach Bad Saarow am Scharmützelsee abgesetzt. Sie hatte schließlich schon etliche Wenden mitgemacht: Oktoberrevolution, Weimarer Republik, Drittes Reich, Westen, Osten, Mauer Sie wissen schon. So wimmelte es ringsum in den Brandenburger Wäldern immer noch nur so von Militär: da saßen die sowjetischen Streitkräfte in Deutschland auf ihren Munitionsbunkern, da hatte die NVA ihre Militärmedizinische Akademie am Scharmützelsee etabliert (als wenn der Name des Sees Programm gewesen wäre). Und zwischendrin ließ sich meine Großmutter kurieren; die nächste Wende sollte ihr Herz nicht mehr in Wallungen versetzen. Um ihr die sechs Wochen zu versüßen, fuhren meine Eltern mit ihren Kindern an einem sonnigen Sonntag zur Stippvisite nach Bad Saarow. Wir saßen gerade gemütlich (die deutsche Gemütlichkeit gab es schließlich auch im Osten) beim Kaffeetrinken zusammen, als die großen Fensterscheiben zum Park hin plötzlich anfingen zu klappern und der Kaffee kreisrunde Vibrationswellen auf seine Oberfläche zauberte. Schon rissen sich die ersten Kaffeetrinkenden von ihren Stühlen, den Terrassenfenstern zugewandt. Neugierig folgten wir im Herdentrieb nach draußen und erblickten einen fetten Militärhubschrauber unter Lärm und Wind auf die sanfte grüne Wiese des Parks sinken. Irgendwann öffnete sich die Tür, ein Leiterchen klappte auf den brandenburgischen Boden, Bodyguards sicherten das Terrain und heraus purzelte der überernährte Bundeskanzler mit einem spacken Männchen im Gepäck auf die sanfte grüne Wiese. Die hundertjährigen Eichen erwachten aus ihrer Mittagsruhe, ihre Blätter stürmten im Wirbelwind und lugten gutmütig auf das Geschehen unter ihnen. Helmut Kohl preschte mit breiten Grinsen, das die fletschenden Zähne eines Wolfes freilegte, in die Gruppe der Neugierigen, holte weit mit seiner Rechten aus, deutete in Richtung Hubschrauberheck auf dem die Hoheitszeichen der Bundesrepublik prangten und schrie uns Neugierigen unter dem Fluglärm selbstgefällig zu: „Das wird auch bald Euer Adler sein!“ Günther Krause vom Rücken des Kanzlers fast komplett verdeckt, schmunzelte kurz zum dreckig werdenden Spiel auf, das von nun an auch seinen Lebensweg bestimmen sollte: das Spiel um Gier, um Macht, um Ignoranz.


Dann ging alles ganz schnell: die konkurrierende Ostindustrie wird von der Treuhand abgeschaltet (Breuel lässt sich die hinterlassenen sozialen Verwerfungen mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband bezahlen), die westdeutsche Verwaltungsdiktatur kommt mit Buschzulage in den Osten und löst das antiquierte Diktat des SED-Politbüros ab. FKK-Strand wird durch Hundebadestrand, Faustan® (Valium) in Kombi mit Nordhäuser Doppelkorn durch E’s, Papers, Speed, Gras und Dope ersetzt. Das Alkoholangebot wird diverser. Die Party schwappt über die Anlagen einstiger sozialistischer Produktion. Das feinfühlige Zwischenspiel zweier sich gegenüberstehender Nachrichtensysteme weicht einer monotheistischen Berichterstattung für die der Bürger brav seine GEZ-Pauschale entrichtet. Eine neue Klasse im Marxschen Sinne wächst heran, die sich degoutiert politische Elite nennt.

Mit der Umtopfung von Friedrich II. von Marburg zurück nach Sanssouci ins Grab seines Lieblingsköters schwellt nationalistisch-militaristisches Blut zurück nach Preußen. Die schon jetzt abgehängte Jugend im Osten wird von Südwestdeutschen eingenordet, der erste große Krawall zwischen Linken und Rechten am 17. August 1991 in Potsdam von Burschenschaften und schlagenden Verbindungen angeheizt.


Die Ordensbrüder der Balley Brandenburg (Johanniter) reiten erhaben zurück in die Ostgebiete, ergatterten sich, was sie im letzten Krieg zurückgelassen hatten: Ordenssitz Potsdam erstrahlt in neuem Glanz. Die Jewish Claims Conference holt sich im Osten ihren Anteil für wirkliche NS-Opfer genauso wie für manipulierte Lebensläufe. Diesmal zahlt nicht der Bundesdeutsche Staat wie einst 1952 (Luxemburger Abkommen) für die deutsche Schuld, sondern die rezenten Eigentümer, die aus Kriegsruinen wieder bewohnbare Häuser gemacht hatten, müssen für vermeintlich jüdischen Voreigentümer genauso wie für bereits entschädigte Kriegsflüchtlinge aufkommen, werden gar aus ihren Wohnungen gejagt, als wenn es die letzten 40 Jahre nicht gegeben hätte. Die Straßen der großen Städte füllen sich mit Obdachlosen.


Pegida und AfD flattern im Ostwind, doch die etablierten Parteien begreifen weder ihre eigene Seneszenz noch anerkennen sie ihre Fehler beim Anschluss der DDR an die Bundesrepublik. Sie schwingen die Medienkeule anstatt. Ohne nach echten Lösungen zu suchen. Ein ignorantes Aufbrausen vor dem Untergang.


Vielleicht sollten wir mit einer Anschluss-Claim-Konferenz Hartz IV aufstocken. Aber das würde auch nur den Konsum ankurbeln, die Marktwirtschaft stärken und dem Klima noch mehr Schaden beifügen. Also bleiben wir Jammerossis, paffen an unserer letzten Kippe, fressen weiter billig Schweinefleisch aus der Großschlachtung und freuen uns, mit Gicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten dem Pharma-Industrie-Komplex zu neuen Dividenden zu verhelfen. Wären wir doch nur auf das Dach der Welt gereist und hätten uns im Meditieren geübt, aber dazu fehlten uns die Moneten.


Der Adler, den Kohl einst pries, der war in Brandenburg schon da, nicht nur in seinem Wappen sondern auch als vereinzelt brütender Seeadler. Mit der wendefolgenden Entvölkerung im Nordosten Deutschlands entstanden die vorausgesagten blühenden Landschaften im Osten, die dem Brutgeschehen des Adlers sehr zum Wohle gereichte.


Inzwischen sind wir erwachsen, wurschteln uns durchs Leben und bleiben die von Krause verkaufte Braut.


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