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AutorenbildMarcus Schütz

Wie ich zum Schreiben kam

Aktualisiert: 19. Apr. 2021



In der Schule habe ich Deutsch gehasst. Diese Lehrsätze der Grammatik! Muttermilch hatte mir besser getan als das Theoriengebäude hinter Plusquamperfekt oder Konjunktiv II. Dennoch bewunderte ich Dorothea, meine Banknachbarin, die niemals einen Fehler im Diktat machte. Noch bevor Frau Lamprecht den Satz zu Ende vorgelesen hatte, setzte Dorothea immer an der richtigen Stelle das Komma und wartete dann seelenruhig auf das Ende des Satzes. Während ich das Heben und Senken im Vorlesungsfluss der Lehrerin nicht als Hinweis auf die Interpunktion erkannte, sondern das geschwollene Diktieren als Rache an den Schülern entlarvte.

Deutsch hatte auch so gar nichts sinnliches. Im Chemieunterricht war das komplett anders! Da wurden schließlich alle Sinne erfreulich gereizt: es zischte und knallte, da umgarnten Schwefelwasserstoff und Zimtaldehyd die Nase, brennendes Magnesium blendete die Augen, Phosphor verätzte nachhaltig die Finger, Cobalt färbte die Boraxperle tiefblau und Chrom smaragdgrün. Ein endloses Sinnesspektakel.

Doch plötzlich beflügelten Edgar Allan Poe, Agatha Christie, Stanislav Lem meine Phantasie. Ich musste gar nicht das Einschneiden des scharfen Pendels selbst fühlen – meine Vorstellungskraft überhöhte die Sensation mehr, als der reale Puff, den das Knallgas im Reagenzglas zu erzeugen vermocht hatte.

Jetzt musste ich es meiner Deutschlehrerin zeigen! In der achten Klasse war das Frau Feldmann, eine in die Jahre gekommene Dame, die genauso vertrocknet wirkte, wie ihr Unterricht. Ihre struppigen, schulterlangen Haare konnten sich nicht entscheiden, ob sie noch blond waren oder sich den Färbungsexperimenten ihrer Volksbildungsministerin hingeben sollten. In Aufsätzen mussten wir die Helden sozialistischer Schmachtfetzen analysieren. Langweilig. Ich schrieb ein ganzes Schulheft mit einer ausgedachten Geschichte voll. Eine fantastische Geschichte, eine Kreation, auf die ich Stolz war. Irgendwann fand ich den Mut, Frau Feldmann mein Werk zum Lesen vorzulegen. Wahrscheinlich hatte sie es von mir am allerwenigsten erwartet. Tage verstrichen, dann erhielt ich mein Heft von ihr zurück. Ein Lächeln, dass ich ihr nie zugetraut hätte, entfaltete plötzlich ihr zerknittertes Gesicht. Ihre nochblonden Haare widersetzten sich ein letztes Mal der favorisierten Blauspülung ihrer Ministerin Margot Honecker. Aus meiner Deutschlehrerin war plötzlich ein Mensch geworden.

Später folgten Diplom- und Doktorarbeit, deren Schreibstil sich immer wieder gegen die trockene Wissenschaftssprache widersetzen wollten und mir gleichzeitig Rüge und Lächeln der Betreuer und Gutachter einbrachten. Artikel schrieb ich lieber für ein populärwissenschaftliches Blatt als für ein reines Wissenschaftsjournal. Schließlich katapultierte mich das Hochschulerneuerungsprogramm in der Wendezeit nach Berkeley, USA. Der Stipendiengeber verlangte einen jährlichen Rapport über mein Leben vor Ort, der die Wissenschaft bewusst ausschloss. Es sollte einen Ratgeber und Reisebericht für folgende Studenten sein. Mein Betreuer vom Deutschen Akademischen Austauschdienst erwartete ihn jedes Mal sehnsüchtig und reichte ihn großzügig im Hause herum. Die Grundlage für mein Soliloqium: „Genlabor – eine Reise durch Sex, Drogen und Exkommunismus“ war gelegt. Ich wartete noch ein bisschen mit der Veröffentlichung und begann parallel an meinem ersten Roman zu arbeiten.

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